Die Weihnachtsgans - KulturAS, wo Kultur und Bergbau aufeinandertreffen

2024/2025
wo Kultur und Bergbau aufeinandertreffen
Sulzbach-Rosenberg/Feuerhof
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Helmut Heinl Autorenseite
"Leben in der Bergmannssiedlung"
Die Weihnachtsgans

Eigentlich waren die Bergleute ehrliche Gesellen. Zwar konnte es einmal vorkommen, dass sich ein Werkzeug in das Haus eines Kameraden verirrte, aber wenn es von der Grube kam, war es nicht so tragisch. Auch beim „Kragl reiß´n“ waren manchmal die Äste etwas dicker als üblich. Das lag vielleicht daran, dass auch der Stamm schon vertrocknet war. Und außerdem gehörte das Holz entweder der Maxhütte oder einem Bauern.
Gegenüber Nachbarn und Kameraden auf dem Feuerhof gab es solche Aktivitäten nicht. Man kannte sich, sah sich jeden Tag in der Grube und hatte untereinander ein besonderes Vertrauensverhältnis. Deshalb kam es unter Tage so gut wie nie vor, dass einer dem andern Tabak, Werkzeuge oder gar Geld klaute. Wenn es dennoch passierte, waren es Leute, die nur kurz dort arbeiteten und dann wieder verschwanden. Es gab allerdings einen Fall, der nie richtig bekannt wurde, aber dennoch unter den kursierte.

Bei den meisten Kameraden war das Geld nicht im Überfluss vorhanden. Viele Kinder, Schulden vom Hausbau zehrten den Lohn auf. Bei einigen wenigen, die nicht wirtschaften konnten, war es besonders knapp. Als es auf Weihnachten zuging, unterhielten sich die Kameraden bei der Brotzeit, wieder einmal, ob man sich zum Fest eine Gans leisten wolle, was schon Luxus war, oder ob es auch ein Stallhase tat. Einer unter ihnen hörte das mit Wehmut, denn er hatte mit seiner großen Familie nur eine kleine Wohnung und konnte sich keine Hasen halten. An größere Fleischmengen an Weihnachten war überhaupt nicht zu denken.

Dabei sah er auf seinem täglichen Weg zur Arbeit, wie die zahlreichen Gänse des benachbarten Bauern heranwuchsen. Der hatte zwar auch nur eine kleine Landwirtschaft, im Nebenerwerb, und arbeitete zusätzlich in der Grube. Aber die vielen Gänse weckten schon etwas Neid. Der Mann wusste ja, wie viel so ein ausgewachsenes Federvieh kosten würde. Kurz vor Weihnachten, bevor die Tiere geschlachtet wurden, warf er seine Skrupel über Bord und sinnierte, wie er sich unauffällig einen solchen Braten zum Fest besorgen konnte. Das war schwierig, denn bekanntermaßen sind Gänse äußerst wachsam und machen bei drohender Gefahr sehr viel Lärm.

In diesem Fall kam dem Mann entgegen, dass der Gänsestall ganz am Ende des Grundstücks lag. Von dort war der Weg über die Wiese, in den Wald nicht weit. Nachdem er seinen Plan für das "Abholen" und einen geordneten Rückweg fertig hatte, machte er sich am Freitag nach der Spätschicht auf den Weg. Alles ging ganz schnell. Die Gänse bemerkten den Angreifer und schlugen Alarm. Er schnappte sich das nächste Federvieh und drehte ihm sofort den Kragen um, damit es keinen Lärm mehr machen konnte. Im Laufschritt überquerte er die Wiese und verschwand im Wald. Damit war er zunächst in Sicherheit. Dort schnitt er dem Vogel den Hals durch, ließ ihn ausbluten. Dann steckte er ihn in einen mitgebrachten Sack und trug seine Beute nach Hause.

Der Bauer merkte am nächsten Morgen gar nicht, dass ihm ein Tier fehlte. Erst seiner Frau kam etwas ungewöhnlich vor. Sie zählte nach und stellte fest, dass eine Gans zu wenig da war. Nun machten sich beide auf die Suche. War das Tier gestohlen, hatte es der Fuchs geholt? Aber der hätte Spuren hinterlassen, von denen es in diesem Fall keine gab - bis auf eine ganz überraschende. Am Boden, nicht weit vom Stall, lag ein dünnes Papiertütchen, wie sie das Bergwerk zur wöchentlichen Lohnzahlung verwendete. Bei genauerem Betrachten stellten die Bauersleute fest, dass sich darin noch der Wochenlohn befand. Aber das war nicht alles. Es steckte auch der Lohnstreifen mit Geburtsdatum und Beschäftigten-Nummer drin. Nun war alles klar - oder doch nicht?

Das Bäuerlein war mit dem Inhalt der Lohntüte zufrieden. Es war deutlich mehr, als seine Gans wert war. Der Dieb konnte natürlich nicht zum Bauern gehen und fragen, ob er auf seinem Grundstück die Lohntüte suchen könne. Der schwieg trotz der Vorhaltungen seiner Frau, weil ihm das vorhandene Geld lieber war als der Streit um das gestohlene Federvieh. Der diebische Bergmann schämte sich und hatte Angst vor der Blamage. Außerdem fürchtete er sich vor den rechtlichen Folgen seines Diebstahls. Begegneten sie sich auf dem Grubengelände, ließ sich keiner etwas anmerken.

So blieb alles verborgen, bis der Bauer, nach einigen Jahren, seinen Kameraden vom Diebstahl und der einbehaltenen „Entschädigung“ erzählte. Wer der Dieb war, verschwieg er allerdings. Denn zum Schluss, meinte er, wäre der gekommen und hätte einen Teil seines Geldes zurückgefordert.

© Helmut Heinl 2022
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