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"Leben in der Bergmannssiedlung"

Eigentlich
waren die Bergleute ehrliche Gesellen. Zwar konnte es einmal vorkommen,
dass sich ein Werkzeug in das Haus eines Kameraden verirrte, aber wenn
es von der Grube kam, war es nicht so tragisch. Auch beim „Kragl reiß´n“
waren manchmal die Äste etwas dicker als üblich. Das lag vielleicht
daran, dass auch der Stamm schon vertrocknet war. Und außerdem gehörte
das Holz entweder der Maxhütte oder einem Bauern.
Gegenüber
Nachbarn und Kameraden auf dem Feuerhof gab es solche Aktivitäten
nicht. Man kannte sich, sah sich jeden Tag in der Grube und hatte
untereinander ein besonderes Vertrauensverhältnis. Deshalb kam es unter
Tage so gut wie nie vor, dass einer dem andern Tabak, Werkzeuge oder gar
Geld klaute. Wenn es dennoch passierte, waren es Leute, die nur kurz
dort arbeiteten und dann wieder verschwanden. Es gab allerdings einen
Fall, der nie richtig bekannt wurde, aber dennoch unter den kursierte.
Bei
den meisten Kameraden war das Geld nicht im Überfluss vorhanden. Viele
Kinder, Schulden vom Hausbau zehrten den Lohn auf. Bei einigen wenigen,
die nicht wirtschaften konnten, war es besonders knapp. Als es auf
Weihnachten zuging, unterhielten sich die Kameraden bei der Brotzeit,
wieder einmal, ob man sich zum Fest eine Gans leisten wolle, was schon
Luxus war, oder ob es auch ein Stallhase tat. Einer unter ihnen hörte
das mit Wehmut, denn er hatte mit seiner großen Familie nur eine kleine
Wohnung und konnte sich keine Hasen halten. An größere Fleischmengen an
Weihnachten war überhaupt nicht zu denken.
Dabei
sah er auf seinem täglichen Weg zur Arbeit, wie die zahlreichen Gänse
des benachbarten Bauern heranwuchsen. Der hatte zwar auch nur eine
kleine Landwirtschaft, im Nebenerwerb, und arbeitete zusätzlich in der
Grube. Aber die vielen Gänse weckten schon etwas Neid. Der Mann wusste
ja, wie viel so ein ausgewachsenes Federvieh kosten würde. Kurz vor
Weihnachten, bevor die Tiere geschlachtet wurden, warf er seine Skrupel
über Bord und sinnierte, wie er sich unauffällig einen solchen Braten
zum Fest besorgen konnte. Das war schwierig, denn bekanntermaßen sind
Gänse äußerst wachsam und machen bei drohender Gefahr sehr viel Lärm.
In
diesem Fall kam dem Mann entgegen, dass der Gänsestall ganz am Ende des
Grundstücks lag. Von dort war der Weg über die Wiese, in den Wald nicht
weit. Nachdem er seinen Plan für das "Abholen" und einen geordneten
Rückweg fertig hatte, machte er sich am Freitag nach der Spätschicht auf
den Weg. Alles ging ganz schnell. Die Gänse bemerkten den Angreifer und
schlugen Alarm. Er schnappte sich das nächste Federvieh und drehte ihm
sofort den Kragen um, damit es keinen Lärm mehr machen konnte. Im
Laufschritt überquerte er die Wiese und verschwand im Wald. Damit war er
zunächst in Sicherheit. Dort schnitt er dem Vogel den Hals durch, ließ
ihn ausbluten. Dann steckte er ihn in einen mitgebrachten Sack und trug
seine Beute nach Hause.
Der
Bauer merkte am nächsten Morgen gar nicht, dass ihm ein Tier fehlte.
Erst seiner Frau kam etwas ungewöhnlich vor. Sie zählte nach und stellte
fest, dass eine Gans zu wenig da war. Nun machten sich beide auf die
Suche. War das Tier gestohlen, hatte es der Fuchs geholt? Aber der hätte
Spuren hinterlassen, von denen es in diesem Fall keine gab - bis auf
eine ganz überraschende. Am Boden, nicht weit vom Stall, lag ein dünnes
Papiertütchen, wie sie das Bergwerk zur wöchentlichen Lohnzahlung
verwendete. Bei genauerem Betrachten stellten die Bauersleute fest, dass
sich darin noch der Wochenlohn befand. Aber das war nicht alles. Es
steckte auch der Lohnstreifen mit Geburtsdatum und Beschäftigten-Nummer
drin. Nun war alles klar - oder doch nicht?
Das
Bäuerlein war mit dem Inhalt der Lohntüte zufrieden. Es war deutlich
mehr, als seine Gans wert war. Der Dieb konnte natürlich nicht zum
Bauern gehen und fragen, ob er auf seinem Grundstück die Lohntüte suchen
könne. Der schwieg trotz der Vorhaltungen seiner Frau, weil ihm das
vorhandene Geld lieber war als der Streit um das gestohlene Federvieh.
Der diebische Bergmann schämte sich und hatte Angst vor der Blamage.
Außerdem fürchtete er sich vor den rechtlichen Folgen seines Diebstahls.
Begegneten sie sich auf dem Grubengelände, ließ sich keiner etwas
anmerken.
So
blieb alles verborgen, bis der Bauer, nach einigen Jahren, seinen
Kameraden vom Diebstahl und der einbehaltenen „Entschädigung“ erzählte.
Wer der Dieb war, verschwieg er allerdings. Denn zum Schluss, meinte er,
wäre der gekommen und hätte einen Teil seines Geldes zurückgefordert.
© Helmut Heinl 2022