Der alte Melch, erzählt von Helmut Heinl - KulturAS, wo Kultur und Bergbau aufeinandertreffen

2024/2025
wo Kultur und Bergbau aufeinandertreffen
Sulzbach-Rosenberg/Feuerhof
Direkt zum Seiteninhalt
Helmut Heinl Autorenseite
"Leben in der Bergmannssiedlung"
Der alte Melch

Es muss wohl in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts gewesen sein. Damals gab es noch keine Rentenversicherung, nur die Bergleute hatten eine Knappschaftskasse, um die Kranken und die Alten zu unterstützen. Denn gerade der Bergbau war es, der durch die gefährliche Arbeit unter Tage manchem fleißigen Mannsbild die Gesundheit und die Arbeitskraft raubte. Um nicht völlig auf den Bettelstab angewiesen zu sein, hatten sich die Bergleute schon sehr früh zu Knappschafts- oder Bruderkassen zusammengeschlossen. Sie sollten im Falle von Krankheit oder Invalidität Unterstützung gewähren und vor totaler Armut bewahren. Weil die Unterstützungskasse in Sulzbach erst am Anfang war und ohne gesetzliche Grundlage mehr oder weniger auf freiwilliger Basis lief, reichten etwaige Zahlungen gerade aus, um den Betroffenen vor dem Verhungern zu bewahren.

Der alte Melch hatte ein fleißiges und arbeitsames Leben hinter sich und war doch auf keinen grünen Zweig gekommen. Seit seiner Schulentlassung war er im Bergbau gewesen; zuerst als Laufbursche, dann an der Haspel und schließlich vor Ort. Er hatte spät geheiratet. Aber von den Kindern, die ihm seines Frau geboren hatte, war nur ein einziger Sohn am Leben geblieben. Der konnte infolge einer Kinderlähmung, die er nie richtig überwunden hatte, nicht arbeiten. Die Frau war dem Bergmann in seinem sechsundfünfzigsten Lebensjahr nach langer Krankheit gestorben. Der Doktor und die Medizin hatten ihn jene Ersparnisse gekostet, mit denen er am Lebensabend ein erträgliches Auskommen gehabt hätte. Um sich und seinen Sohn ernähren zu können, blieb ihm nichts anderes übrig, als mit seinen fast 70 Jahren weiter in den Berg zu fahren.

Das Schicksal hatte ihn zwar ergrauen lassen und wohl auch gebeugt, aber er hatte nicht aufgegeben. Er verfuhr seine 12-stündigen Schichten wie ein Fünfzigjähriger. Weil er ein fleißiger und erfahrener Bergmann war und ein umgänglicher Mensch dazu, ließ ihn der Steiger weiter arbeiten. So setzte er seine Gruppe möglichst dort ein, wo die Arbeit nicht zu hart war. Die Kameraden, die ihn alle schätzten, brachten ihm öfter ein Stück Presssack oder einen Bauernseufzer zur Brotzeit mit, wenn sie zuhause geschlachtet hatten. Auch ein Stück Geräuchertes steckten sie ihm manchmal zu: „damida niat von Fleisch fallt, da Melch".

So ging es Jahr für Jahr, ohne dass der Alte nachließ. Als ihn der Steiger im August bei seinem Rundgang zum Geburtstag gratulierte und schmunzelnd lachend gefragt hatte, wann er den nun aufhören wolle meinte der Gefragte: „I bleiwat ja gern dahoim, owa es tragts halt niat, Herr Steiger“. Und so blieb der Melch in der Grube, obwohl man ihm leichtere Arbeit über Tage angeboten hatte. Im Frühjahr darauf machte der Alte aber dennoch manchmal einen erschöpften und niedergeschlagenen Eindruck. Als die Bergleute über Mittag auffuhren, um über Tage ihre Pause zu halten, blieb er öfter unten. Ein sehr ungewöhnlicher Vorgang, vor allem bei dem schönen Frühlingswetter. Der betagte Bergmann schützte kleine Arbeiten vor, die er noch erledigen wollte, aber es war ihm wohl der Weg bis zum Schacht zu beschwerlich. Denn die Bergleute mussten zum Ausfahren stets zum Förderschacht zurücklaufen und das konnte schon mal ein halber Kilometer sein.

Kurz vor dem 1. Mai, an einem herrlichen Frühlingstag war der Melch erneut nicht ausgefahren, trotz der Vorhaltungen der anderen. Sie hatten ihn gedrängt, er solle doch bei so einem Wetter nicht in dem Loch herunten bleiben. Lieber solle er es etwas langsamer gehen lassen, sie würden ihm schon helfen. Aber der Alte war nicht zu bewegen.

Auf dem Weg zum Schacht, der immer gemeinsam mit den Kameraden der anderen Gruppen zurückgelegt wurde, war man sich denn auch einig, seit dem Winter merke man dem Melch sein Alter halt trotzdem an, aber das sei ja auch kein Wunder.

Als seine Gruppe nach der einstündigen Mittagspause wieder eingefahren war und ans Ort zurückkam, saß der Melch mit herabgesunken Kopf auf einer Schwarte, am letzten Stempel vor der Ortsbrust. Im trüben Licht seiner Froschlampe sah es aus, als ob er eingeschlafen sei. Als er sich aber beim Herannahen der drei Kameraden nicht rührte, kam ihnen das schon seltsam vor. Sie wollten zuerst nicht glauben, was sie erkannten, riefen ihn an, schüttelten ihn – aber er war schon kalt. Die Augen waren geschlossen, der Kopf auf die Brust gesunken. Melch war aus der Welt gekommen, ohne es zu merken. Er hatte sie so still und bescheiden verlassen, wie er gelebt hatte.

Erzählt von Obersteiger Ritter

© Helmut Heinl

Zurück zum Seiteninhalt