Oarzgrowa, die Entscheidung
In den frühen Tagen des 20. Jahrhunderts, als die Industrialisierung das Gesicht der Welt veränderte, fand sich ein Mann namens Leonhard in den düsteren Tiefen der Sulzbacher Eisensteingruben wieder. Leonhard war ein einfacher Mann, der in seinem bisherigen Beruf kaum genug verdiente, um seine Familie zu ernähren. Deshalb wollte er sich er sich, in der Hoffnung auf mehr Geld, in einer der Sulzbacher Gruben verdingen. Der Obersteiger hatte ihm beim kurzen Vorstellungsgespräch eine Arbeit in Aussicht gestellt.
Als er an jenem Morgen zur ersten Einfahrt in die Grube kam, überfiel ihn ein Gefühl der Beklemmung. Die Luft war stickig, vom Geruch des feuchten Gesteins durchdrungen. Nur wenige Öllampen erhellten die Dunkelheit, und die Gestalten der Arbeiter wirkten wie Schatten in der Finsternis. Sie trugen aufgetragene Kleidung, ohne Helm und Schuhe mit dicken Holzsohlen an den Füßen. Der Kopfschutz, wenn man ihn so bezeichnen kann, war ein abgetragener Hut. Alles um ihn herum war nass und kalt, der Boden sumpfig unter seinen Schuhen.
Aufn. Etzmannsberg 1903; Archiv Heinl
Leonhard wurde durch die endlosen, unbeleuchteten Strecken geführt, während sich seine Bedenken immer mehr verstärkten. Konnte man in diesem finsteren Dreckloch überhaupt 10 Stunden arbeiten, sechs Tage in der Woche? Hatte er sich wirklich den richtigen Arbeitsplatz ausgesucht? Doch dann kam er an einen Abbauort. Dort arbeiteten Bergleute, im Schein ihrer Öllampen, mit nacktem Oberkörper. Sie schälten mit ihren Spitzhacken, das von der Sprengung gelockerte Erz von der Ortsbrust. Ihre Muskeln waren von der harten Arbeit gezeichnet, während sie das zerkleinerte Erz in die Wagen schaufelten. Die Arbeiter waren schmutzig und verschwitzt, aber der Neuling hatte das Gefühl, dass ihnen ihre Arbeit Spaß machte. Deshalb fragte er, wie es sich da herunten arbeiten ließ und bekam zur Antwort, das sei der schönste Arbeitsplatz, den sie sich vorstellen könnten. Dabei leuchteten ihre Augen und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Trotz seiner anfänglichen Zweifel wurde Leonhard von den Kameraden freundlich aufgenommen. Sie erzählten ihm von den Herausforderungen und Gefahren der Arbeit im Bergwerk, aber auch von der Solidarität und dem Stolz, den sie empfanden, Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Die Abgeschiedenheit der Abbaustellen und die Dunkelheit waren für die drei kein Problem. Sie sahen es eher als Vorteil an, weil ihnen niemand dreinredete und Vorgaben machte – außer dem Steiger natürlich. Aber der kam nur alle paar Stunden zur Kontrolle. Wie schnell sie das Erz hereingewannen war ihre Sache. Dafür hatten sie mit dem Obersteiger ein Gedinge ausgehandelt. Das bedeutete, jeder gefüllte Wagen wurde abgerechnet und bezahlt. Deshalb hielten sie sich nicht lange mit dem Besucher auf. Der Hauer nahm wieder die Arbeit auf an und das herabprasselnde Erz machte die weitere Unterhaltung fast unmöglich. Der Schlepper hing sein Licht vorne an den Hunt und schob ihn in die finstere Röhre. „Kannst gleich mitgehen“, meinte er noch hochdeutsch, „dann zeige ich Dir die Erzrolle; dort leere ich den Wagen aus“.
Unterwegs war es still, man konnte nur das Mahlen der eisernen Räder hören. Schnaufend erzählte er, sein Hochdeutsch vergessend, wie das mit dem Gedinge war und schwärmte von der Kameradschaft seiner Gruppe. „Oina hülft in anern- dou gits nix“! "Mia machng unan Oarz und naou stimmt da Lou am Freida“ Als der Leonhard die wöchentliche Lohnsumme hörte, kam er schon ins Grübeln. Das war fast das Doppelte, was er als Sattler verdiente, wenn auch in drei Schichten. Und der Zusammenhalt der Gruppe schien wirklich etwas Besonderes zu sein. Nach der Erzrolle, dort hatte sein Führer gewartet, kletterte er mit ihm eine steile Eisenleiter hinunter. Die war nass und kalt und er musste aufpassen, nicht abzurutschen. Unten ging es wieder auf ebenem Boden weiter. Je näher sie dem Schacht kamen, desto stärker und frischer wurde der Luftzug. Das Füllort, am Fuß des Schachtes, war von Petroleumlampen gut beleuchtet und er bemerkte wieder das emsige Treiben. Leere Wagen wurden aus dem Förderkorb gezogen und gefüllte hineingeschoben. Eisen schepperte auf Eisen, immer wieder unterbrochen vom „Ping Ping“ der Glocke des Förderkorbs. Dann ging das Gitter für ihn auf. Sein Begleiter schob ihn in den leicht schwankenden „Behälter“ und schloss das Gitter. Nach erneuten Glockentönen ruckte der Korb an, sauste nach oben.
„Ping“, das Gitter wurde beiseitegeschoben. Geblendet vom hellen Tageslicht an der Rasenhängebank musste er sich erst orientieren. Dann kam die Frage: „Und, foarst a´ bei uns“?
Nach langem Zögern fasste Leonhard schließlich den Entschluss, auf der Grube anzufahren.
So begannen 35 Jahre der harten Arbeit unter Tage für Leonhard. Er lernte, sich den Herausforderungen des Bergbaus zu stellen, und fand seinen Platz in der Gemeinschaft der Bergleute. Trotz der Mühen und Entbehrungen bereute er seine Entscheidung nie. Als er schließlich in den wohlverdienten Ruhestand gegangen war, trug er die Erinnerungen an seine Zeit am „Oarzbearch“ wie einen Schatz in seinem Herzen – prägende, gefährliche Erlebnisse, aber auch an Kameradschaft und Zusammenhalt in einer Welt voller Dunkelheit. Die teilte er sich mit seinen Kameraden, beim Gartenfest oder am Stammtisch. Immer wenn sie sich irgendwo trafen, ging es um die Erlebnisse in der Grube. Uns so halten es die letzten Bergleute unserer Gruben noch heute.
© Helmut Heinl 2024